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Altkluger Student in Leipzig

Wenn ich aus meinem Fitness-Studio hinausschaue, sehe ich die Scherlstraße. Rechts, gleich an der Dresdner, steht die Villa Fechner, wo der Psychologe, Physiker und Schriftsteller Gustav Theodor Fechner von 1850 bis zu seinem Tod 1887 lebte. Hier befand sich nicht nur der zentrale Publikationsort der deutschen Theosophie, sondern auch eine Fabrik für feuerfeste Geldtresore. Ein Student, der in dieser Straße über einem Antiquariat wohnte, regte sich über den Lärm auf, den diese machte, ebenso wie über die lauten Kinder des Vermieters …

Text: Elmar Schenkel

Ich möchte nicht wissen, wie dieser Student auf das heute gegenüberliegende Studio geschaut hätte… vielleicht als eine „Turnanstalt für geistig Minderbemittelte“? Ich hätte ihn damals nicht kennenlernen mögen, den doch sehr altklugen Studenten – wer sonst hat schon mit 14 seine erste Autobiographie geschrieben? Dem Turnen fehle „die künstlerische Überwältigung“ (1870/71), ließ er verlauten. Ich bin froh, dass diese bis heute nicht eingetreten ist. Zehn Jahre später aber schrieb er, dass das Turnen von der Obrigkeit gewollt sei, auf dass man nicht mehr über den Staat nachdenke, sondern stattdessen lieber „schön und fein würde“. Aber Bewegung wurde ihm immer wichtiger: „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden.“ (Ecce homo, 1889). Es kommt also immer darauf an, mit welchem Nietzsche in welchem Alter man zu tun hat – wie dies überhaupt zwischen den Menschen gilt.

Friedrich Nietzsche wuchs in Röcken und Naumburg auf, zwei Orte im Bereich eines Magnetenfeldes namens Leipzig. Nach einem Studienjahr in Bonn, wo er die Theologie an den Nagel hing, ging Nietzsche nach Leipzig und studierte die Sprachen und Literaturen der Antike. Sein Selbstbewusstsein war nicht von schlechten Eltern. Am Tag der Immatrikulation am 19. Oktober 1865 schreibt er einem Freund: „Die Leipziger Studenten mißfallen uns. Sie sind zumeist knirpsartig und scheinen dumm. Das ist ein Vorurtheil. Heute vor hundert Jahren wurde der Student Wolfgang Göthe immatrikuliert. Wir haben die bescheidne Hoffnung, daß man nach wieder hundert Jahren auch unsrer Immatrikulation gedenkt.“ Und ja, der Unbescheidene hat Recht gehabt. Im Oktober 2015 feierte die Universität Leipzig nach 150 Jahren tatsächlich seine Immatrikulation mit einer kleinen Tagung. Er studierte und las unendlich viel, doch gründete er auch einen Philologischen Verein, hielt dort Vorträge, trat mit einem Chor in der Nikolaikirche auf oder vergnügte sich mit Freunden auf einer Kahnfahrt auf der Pleiße nach Connewitz. [...]