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„Eine Wohnung bietet Schutz.“

Interview des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier mit den Straßenmagazinen

Herr Steinmeier, Sie haben im September zum Tag der Wohnungslosen Betroffene zu einem Empfang ins Schloss Bellevue eingeladen. In Einrichtungen der Obdachlosenhilfe sind Sie ein gern gesehener Gast, uns Straßenmagazinen schreiben Sie alljährlich ein Grußwort. Wieso ist Ihnen das Thema so wichtig?
Dass Menschen auf der Straße leben müssen, kein Obdach haben und oft zu wenige soziale Bindungen, das alles beschäftigt mich seit langer Zeit. Wohnungslose Menschen geraten im Alltag zu oft aus unserem Blickfeld und finden oft nicht die Solidarität, auf die sie angewiesen sind, um würdig leben zu können. Daher ist es mir wichtig, immer wieder auf die Lage der Ärmsten und Verwundbarsten aufmerksam zu machen. In unserem wohlhabenden Land dürfen wir es nicht hinnehmen, dass Menschen im Abseits unserer Gesellschaft in Not und Elend leben. Wir müssen ihnen helfen, zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu finden.

Wie wir werfen auch Sie immer wieder die Frage auf: „Warum kriegen wir das eigentlich in einer reichen Gesellschaft nicht in den Griff?“ Sie sind mehrfach Mitglied von Bundesregierungen gewesen. Wieso stand die Bekämpfung der Obdachlosigkeit da nie ernsthaft auf der Tagesordnung?
Wohnungslosigkeit ist zwar ein vielschichtiges, aber ein lösbares Problem. Wir haben zahlreiche Instrumente zur sozialen Absicherung geschaffen – zum Beispiel finanzielle Leistungen für Unterkunft und Heizung, um auch bei vorübergehender Mittellosigkeit das Wohnen in der eigenen Wohnung zu ermöglichen. Wenn Wohnungslosigkeit droht, können die Mietschulden übernommen werden. Das Mietrecht erschwert Kündigungen oder Räumungen. Dennoch gibt es Lücken im Hilfesystem, und nicht alle Hilfen kommen an. Hier sind Lösungen gefragt, und in den meisten Fällen können sie erfahrungsgemäß auch gefunden werden. Zum Beispiel jetzt mit der Wohngeldreform, mit der mehr Haushalte als bisher bei den Wohnkosten unterstützt werden. Wir leben in einer Zeit einer dreifachen Krise, wir haben Krieg in Europa, wir müssen das Klima schützen, und wir müssen die Folgen der Pandemie bewältigen. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass der Kampf gegen Wohnungslosigkeit aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung gerät. Dazu will ich als Bundespräsident beitragen.

Es ist inzwischen erklärtes Ziel von Europäischer Union und Bundesregierung, Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Was muss passieren, damit das nicht ein leeres Versprechen bleibt?
Wir müssen das Hilfesystem besser zugänglich machen und die betroffenen Menschen stärker dabei unterstützen, passende Angebote zu finden und zu nutzen. Außerdem müssen wir mehr Vorsorge treffen, damit Menschen ihre Wohnung erst gar nicht verlieren oder obdachlos werden. Dazu gehört eine engere Zusammenarbeit etwa zwischen Jobcentern und Krankenkassen. Sie müssen möglichst schon aktiv werden können, bevor jemand in Wohnungsnot zu geraten droht. Wir brauchen aber auch die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft. Wir müssen hinschauen und notfalls Hilfe holen, wenn Nachbarn oder Bekannte in solche Schwierigkeiten geraten. Und natürlich brauchen wir mehr bezahlbaren und verfügbaren Wohnraum, wenn wir Wohnungslosigkeit bekämpfen wollen. Das gilt vor allem in den großen Städten und in den Ballungsräumen. [...]