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„Wir sehen die Obdachlosen – aber wir sehen auch an ihnen vorbei“

Der Luxemburger Nicolas Schmit ist seit 2019 EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration. Redakteur Benjamin Laufer (Hinz&Kunzt) hat mit ihm gesprochen – über Obdachlosigkeit als europäisches Problem, Mindestlöhne, Saisonarbeiterinnen und -arbeiter sowie explodierende Mieten.

Interview: Benjamin Laufer & Foto: © EC- Audiovisual Service

B. Laufer: Herr Schmit, es gibt mehr als 700 000 wohnungslose Menschen in der EU, Zehntausende schlafen auf Europas Straßen. Ist das nicht ein dramatisches Zeugnis für eine gescheiterte Sozialpolitik?

N. Schmit: Auch in Deutschland haben die Zahlen in den letzten Jahren stark zugenommen. Das ist eine dramatische Entwicklung und in einem gewissen Sinn auch ein Misserfolg der Sozialpolitik. Es zeigt, dass das soziale Netz Löcher hat und immer mehr Menschen durch diese Löcher fallen. Eine ganze Reihe von Gründen hat zu dieser dramatischen Entwicklung geführt, und wir können dieses Problem nur mit einer sehr breiten Herangehensweise bekämpfen.

Haben Sie denn das Gefühl, dass genug dafür getan wird? Angesichts steigender Zahlen könnte man den Eindruck gewinnen, dass Obdachlosigkeit eher verwaltet statt bekämpft wird.

Wir sehen die Obdachlosen, wir sehen aber auch an ihnen vorbei – das ist nicht normal, da muss etwas geschehen. Wenn die Bürger verlangen, dass diesen Menschen geholfen wird, wird die Politik vielleicht noch energischer handeln. Obdachlosigkeit ist zu einer reellen politischen Frage geworden, da haben auch das Europäische Parlament und sehr viele NGOs mitgeholfen. Ich glaube, wir sind an einem Punkt, wo jeder bereit ist, mehr zu tun. [...]