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„… in einer abgefuckten Zeit“

Buchrezension

Text: Björn Wilda


Clausnitz, ein 870-Seelen-Ort im Erzgebirgischen nahe der tschechischen Grenze. Eigentlich nichts Auffälliges an diesem Nest. Wenn da nicht der 18. Februar 2016 gewesen wäre. Am Abend jenes Tages tobte ein wütender, hasserfüllter Mob von bis zu hundert Leuten vor einem Bus mit 15 ankommenden Flüchtlingen. Das Gebrüll verängstigte die Insassen derart, dass sie sich stundenlang lang nicht aus dem Bus trauten. Schließlich mussten Polizisten sie in ihre neue Unterkunft im Ort tragen. Nur wenige hatten den verbalen Angriff auf die Flüchtlinge verurteilt, die meisten – so auch der Leiter der Unterkunft und AfD-Mitglied – verharmlosten das Geschehene.

Jene Ereignisse sowie die eigenen Erfahrungen während seiner über dreijährigen Tätigkeit als Flüchtlingssozialarbeiter nahm Autor Sebastian Caspar zum Anlass, mit „09236 Clausnitz“ sein viertes Buch vorzulegen. Der Ort selbst taucht im Roman nie auf, steht aber wie ein Menetekel über dem Inhalt.
Protagonistin ist Svea, eine Frau Mitte 30, Sozialarbeiterin, die sich mit ihren Kollegen Christian und Rafik, einem Migranten, um Flüchtlinge und Asylbewerber in einer mittleren Stadt kümmert. Sie besorgen Unterkünfte, füllen Anträge aus, begleiten zu Behörden, vermitteln. Svea empfindet ihren Alltag als eintönig und trostlos. Angesichts der Flut von Bürokratie, der Anfeindungen durch „Wutbürger“, des unverhohlen abschätzigen Auftretens durch Heimleiter Röhm (!) und der Schicksale der ihr Anvertrauten wie etwa Amina aus Inguschetien machen sie frustriert, illusionslos und treiben sie zu wiederholten Selbstverletzungen. Auch ihre Beziehung zu „M“ steht unter keinem guten Stern, wenn man überhaupt von einer Beziehung sprechen kann. Als Leser gibt sie mir ohnehin Rätsel auf. In der Figur des Kollegen Christian wiederum präsentiert der Autor einen Mitstreiter Sveas, der zwar mitzieht, aber trotzdem Zweifel hegt am Sinn ihrer Arbeit. Er führt hierbei beispielsweise Missbrauch von Sozialleistungen, Kleinkriminalität, Passivität, „Geschlechterapartheid“ oder Belästigungen unter bzw. durch Migranten ins Feld. Damit wird die ganze Komplexität zum Thema Flucht bzw. Migration in unserer Gesellschaft sowie die Einstellung darüber sichtbar – und es ist legitim, darüber zu schreiben. [...]