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„Wohnungslosigkeit tritt ein, wenn keine Wahl mehr da ist“

Jutta Henke ist Geschäftsführerin der Bremer Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS). Das Forschungsinstitut hat in einer bundesweiten Studie Entstehung, Verlauf und Struktur von Wohnungslosigkeit untersucht und Strategien entwickelt, sie zu beenden oder noch besser: sie abzuwenden.

Interview: Bastian Pütter / Straßenmagazin bodo & Foto: GISS


Bastian Pütter: Wohnungslose sind häufig mit Unverständnis und Schuldzuschreibungen konfrontiert: „Wohnen kann doch jeder.“
Jutta Henke: Man glaubt, bei Wohnungslosen müsse etwas ganz anders sein als bei mir oder dir, das stimmt aber nicht. Tatsächlich sind bei ihnen überaus ungünstige Faktoren so zusammengetroffen, dass es am Ende keine Optionen mehr gab und der Wohnungsverlust unausweichlich wurde. Materielle Ursachen sind ein Hauptgrund: 80 Prozent der Menschen verlieren am Ende ihre Wohnung, weil sie die Miete nicht zahlen können. Großen Einfluss hat, wie erreichbar und wie sichtbar das Hilfesystem ist, und wie präventiv es arbeitet. Und dann sind es persönliche Faktoren, die zum Beispiel gesundheitlicher Art sein können. Am Ende sind die Selbsthilfekräfte erschöpft. Solange die Menschen eine Wahl haben, treffen sie die vernünftigsten Entscheidungen, die man in einer schwierigen Lage treffen kann. Wohnungslosigkeit tritt ein, wenn keine Wahl mehr da ist.

Ihr Forschungsprojekt hat so etwas wie einen Gesamtüberblick über die Situation der Wohnungslosenhilfe in Deutschland erstellt. Wie sind Sie vorgegangen?
Als erstes haben wir eine Onlinebefragung bei einem repräsentativen Ausschnitt an Kommunen gemacht und dort die Verwaltungen, aber auch alle freien Träger und alle Jobcenter befragt. Daraus können wir ganz gut schließen, wie sich die Hilfeangebote und die Notlagen verteilen.
Der zweite Schritt war eine Vertiefungsstudie, in der wir zwölf Hilfesysteme detailliert angeschaut haben. Wir haben mit allen AkteurInnen vor Ort gesprochen und uns Verfahren, Abläufe und Strukturen erklären lassen. Denn ein wichtiges Ziel der Untersuchung war es, Ansatzpunkte für Verbesserungen zu finden. Der dritte Teil bestand aus Interviews mit Menschen, die wohnungslos waren und solchen, die ihre Wohnungslosigkeit überwunden hatten – mit dem gleichen Ziel: Wir wollten wissen, was hat bei der zweiten Gruppe funktioniert, das bei anderen nicht geklappt hat. Wir halten es für einen Fehler, nur auf die sichtbare Problematik zu gucken, weil die Problemlösungen dort genau nicht gefunden werden. Lösungen findet man vor dem Wohnungsverlust oder danach: z.B. in der Wohnungsversorgung und langfristigen Absicherung.

Zur Frage des „Davor“ haben Sie ein Plädoyer veröffentlicht, in dem Sie fordern, den Fokus auf die Vermeidung von Wohnungslosigkeit zu verschieben. Wie soll das aussehen?
Indem man die Hilfen für Menschen auf der Straße ausbaut, verliert man aus den Augen, wo die Problemlösung liegt. Einer unserer Befunde ist, dass die präventiven Hilfesysteme viel weniger sichtbar sind, als sie selbst annehmen. Dort glaubt man, die Leute warten und verlieren Zeit. Das stimmt nicht. Sie wissen oft nicht, welche Hilfe es wo gibt. Das heißt für das System, es muss sich erstens so sichtbar wie möglich machen. Es muss deutlich gemacht werden, dass eine Stadt Wohnungslosigkeit verhindern will. Das muss sie zeigen, dafür muss sie eine Homepage haben, Anzeigen schalten, Flyer drucken usw. Das volle Programm. Und das Zweite ist: Sie muss ihre Instrumente nutzen. Ein Ergebnis der Untersuchung war, dass der Einsatz von persönlicher Unterstützung zur Wohnungssicherung längst nicht in dem Umfang genutzt wird, wie es möglich wäre. Es gibt beispielsweise das Betreute Wohnen, auch in NRW, doch das wird häufig nur nachgehend, also nach dem Wohnungsverlust, eingesetzt. Viel wirkungsvoller wäre es, diese Leistung schon im Vorfeld zu installieren, um den Wohnungsverlust abzuwenden. Unvermeidbare Wohnungsverluste gibt es viel weniger, als man glaubt. [...]