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Das Oben-Unten der Gesellschaft durchbrechen!

In der Corona-Krise zeigt sich, dass vielen systemrelevanten Berufsgruppen bisher gesellschaftliche Wertschätzung verwehrt wurde. Pfleger/innen, Reinigungskräfte, Kassierer/innen u.v.m. sind derzeit, aber auch sonst, unentbehrlich, werden jedoch etwa im Hinblick auf ihre Entlohnung benachteiligt. Sie sind von Klassismus betroffen. In einem Interview (vor Corona), das uns freundlicherweise von der Rostocker Straßenzeitung „Strohhalm“ zur Verfügung gestellt wurde, erklärt der Publizist und Soziologe Andreas Kemper, was genau Klassismus ist und macht.

Interview: Frank Schlößer & Foto: Wikipedia-Stephan-Röhl


Strohhalm: Andreas Kemper, wer sich im Internet über Klassismus informieren möchte, stößt gleich auf Ihren Namen. Geben Sie es zu – Sie haben sich das ausgedacht!
Andreas Kemper: Nein, der Begriff entstand vor rund 100 Jahren in den USA, um dort die ungerechten Klassenverhältnisse benennen zu können. Dann war das Wort verschwunden, bis es in den politischen Prozessen der 1970er Jahre wiedergefunden oder neu geprägt wurde. Die niederländische Feministin Anja Meulenbelt hat den Begriff damals nach Europa geholt. Sie schrieb in ihrem Buch „Scheidelinien“, dass man Sexismus, Rassismus und Klassismus gemeinsam denken muss.

Sie verwenden in ihren Schriften Begriffe wie „Arbeiterklasse“ oder „Ausbeutung“, die viele noch aus dem Staatsbürgerkundeunterricht der DDR kennen. Das ist doch vorbei.
Ich möchte mich dafür stark machen, dass wir wieder von Klassen und Ausbeutung sprechen. Wir leben in einem Land der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit: Die eine Hälfte der Deutschen wird ihren Kindern nichts vererben können. Und das in einem reichen Land: Statistisch erben wir pro Kopf eine halbe Million Euro! Das heißt: Die einen werden immer arbeiten müssen, um am Ende trotzdem arm zu sterben. Für die anderen spielt Geld keine Rolle. Die Arbeiterinnen und Arbeiter verdienen gerade so viel, wie sie zur Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft brauchen – damit sie nächste Woche wieder arbeiten gehen können. Der Rest sammelt sich automatisch bei der Hälfte der Bevölkerung und da vor allem bei den Reichen und Superreichen, die schon immer Vermögen hatten.

Klingt ganz schön nach Marx.
Genau. Wie auch der Hinweis von Marx auf die klassistische Sprache: Der Begriff „Arbeitnehmer“ verschleiert, dass dieser eigentlich der ist, der seine Arbeit jemandem gibt. Und dass der „Arbeitgeber“ ja keine Arbeit gibt, sondern nur einen Job. Natürlich haben sich bestimmte Formen der Ausbeutung wie Kinderarbeit international verlagert. Marx spricht von den Klassen der Arbeiter, der Kapitalisten und der adligen Landbesitzer. Auch diese haben sich verändert, aber sie sind da und diese Klassenbegriffe sind noch sehr gut anwendbar. [...]