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Sündenböcke

Ausgrenzung für's Gemeinwohl

Es gab ihn gefühlt schon immer, und unser Gefühl soll Recht behalten. Seinen historischen Ursprung hat der Begriff des Sündenbocks, wie der erste Wortteil vermuten lässt, in der Religionsgeschichte. Seitdem taucht er bis heute immer wieder auf und man fragt sich, was genau ist ein Sündenbock per defintionem überhaupt? Die KiPPE hat nachgeschaut und geht im Folgenden auf Begriffsgeschichte und Prinzip ein.

Text: Alicia Müller & Bild: William Homan Hunt – Der Sündenbock (1854)


Zum Versöhnungstag heißt es sinngemäß im dritten Buch Mose 16: „Aaron bring den Bock, lege die Hände auf sein Haupt und übergebe Sünden und Missetaten der Kinder.“ Anschließend wurde das arme Tier mutterseelenallein in die Wüste geschickt, um die elendigen Schandtaten aus dem Dorf fortzutragen, sodass dieses ohne schlechtes Gewissen weiterleben konnte. Ein babylonisches Ersatz-Königsritual verfuhr nach ähnlichem Prinzip: Einfache Leute oder Kriegsgefangene wurden vorübergehend zum König ernannt, sodass schlechte Omen auf sie gesprochen und sie anschließend ins Ausland verbannt werden konnten. Seitdem zieht sich das Phänomen der willkürlichen Schuldübertragung durch die Menschheitsgeschichte wie ein irrer Fluch. Das veranlasste auch immer wieder Wissenschaftler, sich mit dem Sündenbock-Prinzip soziopsychologisch auseinanderzusetzen.
Randgruppen und Minderheiten eignen sich perfekt für die Schuldübertragung. Die Herrschaftsgruppe oder Kerngesellschaft stellt ein Werte- und Normensystem auf, welches mit Sanktionen verknüpft ist. Damit entstehen Kanten um die Gemeinschaft herum, die mit moralischen Wert-Urteilen aufgeladen sind und somit zur Abgrenzung von „den Anderen“ dienen. Durch soziale Kategorien, die oft mit Vorurteilen und Stereotypen verknüpft sind, wird aus Abgrenzung sehr schnell Ausgrenzung. Bei Konflikten zwischen Herrschafts- und Randgruppe ist Konkurrenz die häufigste Ursache. Nach der Sündenbocktheorie der Wissenschaftlerinnen Lioba Werth und Jennifer Mayer besteht eine „Tendenz, bei Frustration eine leicht zu identifizierende, nicht gemochte und machtlose Fremdgruppe verantwortlich zu machen, obwohl diese nicht Ursache der misslichen Lage ist.“ Gegenargumente oder eine differenzierte Auseinandersetzung mit individuelle Charaktereigenschaften sind keine Optionen. Stattdessen spricht der Experte vom Vorgang der illusorischen Korrelation. Das heißt, dass Informationen nicht gleichermaßen abgespeichert werden – ganz nach dem Prinzip, man sieht nur das, was man sehen will. Trifft man dann doch mal auf einen Menschen der Sündenbockgruppe, welcher dem vorgefertigten Bild überhaupt nicht entspricht, kommt es zum sogenannten Subtyping: Ein Rassist blendet bei einem kompetenten türkischen Chefarzt die Kategorie ‚Türke‘ aus und ordnet ihn in seinem Schubladensystem nur bei ‚Chefarzt‘ ein. [...]