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Und er lacht

Kurzgeschichte von Bettine Reichelt


Noch ist da nichts. Nichts als eine Erinnerung. Und ein Schloss. Nein, eine Burg, eine Ruine. Ein Ort, an dem wir als Kinder spielten. Nicht immer. Aber doch ab und an. Ein magischer Ort. Eine Erinnerung. Meine Erinnerung.
Und dann ist da dieser Stein. Der, den sie geworfen haben. Wurfstein. Wurfelement. Stein, älter als die Zeit, in der man uns sonst nur Winkelemente in die Hand gab. Ohne ihn wäre alles anders gewesen. Nein, nicht alles, aber doch vieles. Und ich wäre eine andere.

Und heute? Was ist heute? Heute trage ich den Stein zurück. Heute soll er nach Hause kommen. Wir fahren gemeinsam. Er wollte mitkommen. Jetzt sitzt er neben mir und schaut aus dem Fenster. Lächelt. So wie nur er lächeln kann.
Und noch einmal frage ich mich: War es ein Unfall? So haben wir es erklärt: Ein Unfall. Niemand hat Schuld. Ich nicht, die anderen nicht. Keiner. Und doch: Ich habe nie daran geglaubt, dass es ein Unfall war. Ich habe nie aufgehört, es als eine Tat anzusehen, die gesühnt werden muss, die ich sühnen musste – für uns alle. Ich? Wirklich ich? Nicht viel mehr er?
Ich fahre, biege auf die Autobahn, fahre, sinniere und er betrachtet die Welt. Die Hügel fliegen vorbei, der Einschnitt im Berg, die Brücke. Bald werden wir da sein. Und dann, frage ich mich, und dann? Er schaut und schaut und schaut. Keine Frage, nichts. Obwohl er den Stein in seiner Hand hat. Was weiß er wirklich?
Ich wähle den Weg an der Kirche vorbei, durch den Nachbarort. Über die Brücke. Der Fußweg biegt ab. Jetzt hinunter und wieder hinauf. Dann stelle ich den Wagen am Rande des Feldes ab. Von hier aus werden wir laufen. Nicht die Straße, nein, den kleinen Weg neben den Häusern, der, von dem aus man zum Tal sieht und zu den Gräbern. Den Gruselweg. Wir gehen. Er wendet sein Gesicht zur Sonne und lächelt.
Und dann die Erkenntnis: Es ist ja seit langer, langer Zeit das erste Mal, dass er wieder hier ist. Ich habe es mir nicht klar gemacht. Ich … Was, wenn er versteht? Verzweifelt? Wenn er wegrennt … wenn … Ich habe die Verantwortung. Ich. Immer ich. Aber er rennt nicht weg. Er bleibt nur gerade an der Stelle stehen, an der es geschah. Genau dort.
Rechts von uns die Häuser. Sie kommen mir klein vor. Erst verdeckten sie den Himmel. Früher, wenn wir mit den Rädern herkamen und spielten. Dann interessierten sie mich nicht mehr. Jetzt? Puppenstuben gegen die Häuser, die ich kennengelernt habe. Aber doch heimatliche Stuben. Vertraut und wunderbar. Allein der Geruch nach Wald lässt mich träumen und an unbeschwerte Zeiten denken. [...]