Reiner Tetzner ist Vorsitzender des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie e.V. Der Verein beschäftigt sich mit der Frage, welche gemeinsamen Wurzeln und Ursprünge es in den Kulturen und Religionen der Welt gibt. Dabei legt er großen Wert auf Weltoffenheit und Toleranz, Extremismus wird strikt abgelehnt. Reiner Tetzner über Germanenmythos, Thorhammer und Utopie.
Interview: DK & Foto: Markus Dörk
KiPPE: Warum ist die Mythologie für Sie ein so wichtiges Thema?
Reiner Tetzner: Ursprünglich habe ich Philosophie mit dem Nebenfach Physik studiert, komme also eigentlich aus der exakten Naturwissenschaft. Damals hätte ich nie geglaubt, dass ich mich mal mit Mythologie beschäftigen werde. Da dachte ich noch, dass das mit der Religion verwandt und etwas Unexaktes wäre. Aber dann kam ich über die Literatur zur Mythologie und sehe die Mythologie heute sogar als wichtiger an als die Philosophie selbst, weil die Philosophie zwar versucht, die Totalität des Menschen und der Welt darzustellen, aber eben nur mit abstrakten Begriffen und Theorien. Die Mythologie dagegen umfasst auch den aktiven Lebensprozess der Menschen, ihre Rituale und Verhaltensweisen und ist nicht nur reine Theorie. Insofern ist die wissenschaftlich aufgefasste Mythologie (nicht die Esoterik!) für mich das Umfassende, so wie sie z. B. C. G. Jung mit seinen Archetypen zeigt, also eine Darstellung der Welt in ihrer Totalität von Theorie und Praxis. Zum Mythos gehört ja auch der Ritus und wenn wir uns z. B. die Felszeichnungen von vor 20 000 Jahren anschauen, dann haben diese Menschen schon versucht, das Erlegen von Tieren zu trainieren, Kraft zu sammeln, Angst zu vertreiben und sich gewissermaßen bereit zu machen, um mit diesen Riten die Tiere zu erlegen. Mythen haben auch etwas Aktivierendes, deswegen ist das griechische Theater ja aus dem Mythos entstanden. Man versucht also, durch mythengetragene Riten sich selbst, die Gesellschaft, besser zu beherrschen und Ängste zu überwinden. So glaubte man früher, den Naturkreislauf aufrechtzuerhalten. Und während die Philosophie nur eine theoretische Erklärung bietet, gibt die wissenschaftlich aufgefasste Mythologie durch Kulte und Riten einen direkten Impuls für das Handeln des Menschen. Mittels der Mythen versuchte man also damals, sich selbst zu stabilisieren.
Wie und wann sind Sie zur Mythologie gekommen?
Das erste Mal mit Skandinavien in Kontakt gekommen bin ich bei einer Reise mit meiner Frau zu Studienzwecken für ein gemeinsames Reisebuch über unser Nachbarland Dänemark, das später unter dem Titel „Im Lande der Fähren – Bilder aus Dänemark“ erschienen ist. Und dort habe ich dann die germanischen Götter und Erzählungen kennengelernt und gemerkt: Das sind ja auch meine Götter! Das wusste ich bis dahin gar nicht. Zu DDR-Zeiten hatte ich viel über Umweltthemen geschrieben. Da diese Themen damals verpönt waren, wurde auch der Roman „Das unsinkbare Schiff“, in dem ich Umweltszenarien beschrieb, nicht gedruckt. Auf der Suche nach einem neuen Thema entdeckte ich dann die germanische Mythologie als Nische und schrieb darüber. Vor der Wende wurde das aber auch nicht publiziert. Erst 1989 gab es über Christa und Gerd Wolf einen Kontakt zum Reclam-Verlag, und dort wurde es dann 1992 sofort gedruckt. Und mittlerweile wurden die germanischen Götter- und Heldensagen sogar ins Türkische, Japanische, Koreanische und Chinesische übersetzt.
Wie war der Umgang mit diesem Thema in der DDR?
Die griechische und persische Mythologie oder das Nibelungenlied waren Themen damals, aber das Germanische und seine Götter galten durch das Dritte Reich als verpönt. [...]