Auch Leipzig hatte seine Originale. Da waren z.B. der fliegende Händler Seiferts Oscar („Gindersch, gooft Gämme, ’s gomm laus‘sche Zeiden!“) oder die Mundartdichterin Lene Voigt mit ihren unvergleichlichen „Säk’schen Balladen“. Hatte? Leipziger Originale gibt es auch heute noch. In unserer kleinen Serie wollen wir sie vorstellen, in dieser Ausgabe nun den Außenseiter, Autodidakt und Allrounder Günter Brendel.
Text & Foto: Björn Wilda
Retuscheur, Fotograf, Maler, Grafiker, Dichter, Wortkünstler, Performancer… Es braucht so seine Zeit, die Stationen von Günter Brendel zu erfassen. Und Zeit sollte man sich ohnehin nehmen, wenn man ihn aufsucht: Mit einem Smalltalk zwischen Tür und Angel ist es nicht getan. Wenn Günter Brendel einmal loslegt – wortgewaltig, gestenreich – gibt’s für ihn kein Halten mehr.
Da kommen dann auch Gegenstände, wenn er sie einmal in den Händen hält, nicht zur Ruhe und werden geradezu eins mit ihm. Wie beispielsweise bei Geburtstagsfeiern von Freunden, bei denen Günter Brendel auftritt. Aktionsort Restaurant des City Hochhauses: Mit fahrigen Bewegungen setzt sich Brendel rittlings auf einen Stuhl, hüpft damit über das Parkett, schnauft lautstark und ruft zwischendurch nur: „Stuhlgang!“. Das wiederholt er mehrmals zum Gaudi der Gäste. Die nächste Nummer: Brendel greift nach einem Text, der bei näherem Hinsehen nur aus Vokalen besteht, und deklamiert mit viel Gestik und Mimik lauthals: „Aa-oooh-uil-a-oa-iiiei-eia…“ Töne? Worte? Worttöne? Tonmalerei? Von allem etwas. Neben den Requisiten benutzt er seinen ganzen Körper als Instrument.
Günter Brendel ist ein Handwerker und Künstler, der sich nicht festlegen kann. Immerhin: „Manche bezeichnen mich als Dadaist“, meint er, „da ist wohl was dran.“ Neben abstrakten Motiven wie seiner Pythagoras-Serie stehen dem gegenüber andere Bilder, zum Beispiel die realistisch und feinfühlig gemalten Porträts, die im Wohnzimmer hängen – die seiner Ehefrau Traudel oder seiner Mutter.
Dort, wo Günter Brendel mit seiner Gattin lebt und er mit seinen 73 Jahren immer noch in seinem engen Arbeitszimmer entwirft, bastelt, schreibt oder malt, ist vergangene Zeit eingefangen. Die Wohnung kennt kein einziges modernes Möbelstück oder modernen Einrichtungsgegenstand, sogar die (nach wie vor tadellos laufenden) Radios tragen noch das Logo von RFT oder Stern Radio…
Seit 70 Jahren lebt Brendel hier in einem Altbau in Eutritzsch, „Ich bin ein Ureinwohner“, posaunt er, rollt mit den Augen hinter den dicken Brillengläsern und fuchtelt mit den langen, schmalen Händen. Dies und seine Ehe sind die einzigen Konstanten im Leben des Ruhelosen. 1946, mit drei Jahren, war er hier mit den Eltern eingezogen, nachdem die Familie zunächst bei dem verheerenden Angriff vom 4. Dezember 1943 in der Dresdner Straße ausgebombt wurde und sie vorübergehend bei Bekannten in Gohlis unterkamen. [...]