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Leben mit Handicap

In keiner Familie geht es nach Lehrbuch

Dürfen Menschen mit Behinderungen – egal ob körperlicher, geistiger oder seelischer Art – selbständig wohnen, Sex haben oder gar eine Familie gründen? Behinderungen als Barrieren fürs Leben? Der Gegenentwurf heißt Teilhabe. So wie es „Betroffene“ wie Steven Wallner erfahren, und zwar im aktiven Sinne. Ihm zur Seite stehen Kolleginnen von „Leben mit Handicaps e.V.“. Leben mit Handicaps ist ein Leben mit Möglichkeiten.

Text & Foto: Björn Wilda


Als ich mich mit Steven Wallner sowie mit Dr. Marion Michel und Anja Seidel, beide vom Verein Leben mit Handicaps, im Soziokulturellen Zentrum „Die Villa“ verabrede, kommt es zu Beginn zu einer kurzen, aber vielsagenden Begebenheit. Eine der beiden Sitzecken im Café der Villa befindet sich auf einem Podest, die gegenüberliegende Sitzecke liegt ebenerdig. Jene auf dem Podest wirkt abgeschirmt und gemütlicher, also steuern wir wie selbstverständlich darauf zu. Nur Steven in seinem Rollstuhl wendet sich sofort zur anderen Ecke, sieht uns fragend hinterher. Na klar, sorry, entfährt es uns drei anderen wie Ertappte mit Barrieren im Kopf… Begegnungen mit Menschen mit Behinderungen verlangen immer wieder besondere Aufmerksamkeit.

Steven ist 32 und bringt sich auch mit Lernschwierigkeiten als Mitarbeiter und Experte für Leichte Sprache im Verein mit ein, um anderen Menschen mit Behinderung bzw. Beeinträchtigungen zu helfen, z. B. als Prüfer für Leichte Sprache. Dazu später mehr.

Die begleitende und unterstützende Tätigkeit des Vereins Leben mit Handicaps ruht auf drei Säulen: Er wirkt als Kompetenzzentrum für behinderte und chronisch kranke Eltern, er führt ein Büro für Leichte Sprache und fungiert als ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB). Ein sehr komplexes Profil, das aber den Anspruch und das Anliegen deutlich macht: sich im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention für eine selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft für Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen einzusetzen.
„Der Alltag ist für beide Seiten immer wieder eine Herausforderung“, erklärt Vereinsvorsitzende Marion Michel und erinnert wie zur Bestätigung lächelnd noch einmal an die kleine Szene mit den Sitzecken. „Wir beraten und begleiten Menschen, egal, welche Behinderung sie haben. Für Eltern mit körperlichen und Sinnesbehinderungen gibt es beispielsweise die Elternassistenz, die über die Eingliederungshilfe gewährt wird, für Eltern mit Lernschwierigkeiten die Begleitete Elternschaft, die eine besondere Form der Familienhilfe ist. Da ist vor allem das Jugendamt Ansprechpartner. Wir wollen verhindern, dass Eltern überfordert und Kinder möglichst nicht aus der Familie genommen werden.“ Immer wieder müsse individuell abgewogen werden, „denn in keiner Familie geht es nach Lehrbuch zu.“ [...]