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So geht es nicht mehr weiter

Vor 25 Jahren – Erlebnisse, verbunden mit der Wendezeit

Montag, 18. September 1989
Eine Wohngebietsversammlung abends im damaligen „Restaurant Stadt Dresden“ am Georgiring unweit des Hauptbahnhofs. Als Redakteur der „Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten“ (MNN) verfolge ich eine sich zäh hinziehende Veranstaltung, und ich weiß partout nicht, was ich darüber schreiben soll. Den meisten der hier Versammelten sehe ich an, dass sie um diese Zeit ganz woanders sein möchten, zu Hause bei der Familie oder noch auf ein Bier in der Kneipe. Ansprachen, Reden, doch keine Diskussionen. Alles wie gehabt.
Irgendwann dringen Geräusche von draußen durch die großen Glasscheiben. Es ist bereits dunkel, zu sehen ist so gut nichts. Die Versammelten im Saal recken die Hälse. Die Geräusche formen sich zu Stimmen, sie nähern sich aus Richtung Oper. Aus den Stimmen werden Sprechchöre, immer deutlicher werdend. „Schließt euch an!“, hören wir schließlich. Oder, „Neues Forum zulassen!“. Wir eilen ans Fenster, können schemenhaft einen Zug von einigen hundert Menschen erkennen, der Richtung Hauptbahnhof weiterzieht. Ich komme mir vor, als ob ich in einer völlig abgeschirmten Kapsel auf eine bewegte Außenwelt blicke. Der Augenblick wirkt so unwirklich.
An einen Fortgang der langweiligen Versammlung ist nicht mehr zu denken. Einige schütteln ungläubig die Köpfe, winken ab. „Das bringt doch nichts“, ereifern sie sich. Andere rufen in die aufgescheuchte Runde: „Was hocken wir hier eigentlich noch herum und schwafeln?“ Diese Versammlung geht ohne Ergebnis auseinander.

Montag, 2. Oktober 1989
Unmöglich, erneut irgendwo wieder die Zeit abzusitzen. Das, was inzwischen jeden Montagabend in Leipzig geschieht, was wir im (West-)Fernsehen sehen können, fordert zu eigenen Konsequenzen. Diese teile ich u.a. mit Schwägerin und Schwager sowie mit einer gemeinsamen Bekannten. Wir vier haben uns für diesen Montag verabredet, nach Ende des Friedensgebetes uns in den Demonstrationszug einzureihen. Wie weit wir kommen werden, wissen wir nicht. Aber der Menschenzug ist groß, er muss viel größer sein, als beim letzten Mal, denke ich. Vielleicht schon einige tausend. Wir laufen eng beieinander. Wir sind Höhe der Wohnhauser am Brühl, nähern uns dem damaligen Friedrich-Engels-Platz (heute Tröndlinring). An der Seite stehen Passanten, auch sie sollen sich anschließen, werden aufgemuntert. Da geht ein Raunen durch die Menge. Wir werden nicht weiterkommen, heißt es. Hochgefühl vermischte sich mit Bange. Wir hatten vorangegangene Bilder im Westfernsehen gesehen, wie Ordnungshüter mit Protestierenden umgesprungen sind. Und da sehen wir vielleicht hundert Meter vor uns ein Polizeiaufgebot, das in Höhe Fußgängerbrücke den Platz abgeriegelt hat. Eine amorphe Formation.
„Los, hakt euch ein!“, ruft jemand aus der Menge. Auch wir vier fassen uns fest an den Händen. „Keine Gewalt!“, rufen wir mit den anderen. Die Brücke kommt näher, die Situation wird brenzlig. Womöglich zusammenschlagen wollen wir uns nicht. Wir erreichen den Ring Höhe Nordstraße, dann Höhe Löhrstraße. Was tun? Hier scheren wir aus, auch viele andere vor und hinter uns wählen diese Entscheidung. Helden konnten wir nicht sein. Glücklicherweise waren die Seitenstraßen nicht abgeriegelt. Die Knie sind weich, das Herz klopft. Irgendwann stehen wir am Zoo-Eingang, atmeten durch. Unvermittelt zieht die gemeinsame Bekannte kurz an meiner Hand und sagt zu mir: „So, jetzt kannst du mich aber wieder loslassen.“ [...]