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Der gefallene Sohn (Teil 1)

Das Leben wechselt mit Drogen auf die Überholspur

Wie ein Standbild hat sich dieser Augenblick in Annas Erinnerung eingeprägt: Sie sieht sich am Küchentisch sitzen und ihr gegenüber haben ihre drei Kinder Platz genommen. Michel, 26, die 22-jährige Ella und der kleine John (alle Namen geändert). Die Stimmung ist ausgelassen, die Kinder necken sich und lachen darüber. Ein Familienidyll. „Ich muss unbedingt ein Foto von den Dreien machen. Alle zusammen“, hatte sie damals gedacht, aber das „heute noch“ gedanklich zur Seite geschoben. Morgen sei auch noch ein ganzer Tag Zeit dafür. Oder vom Übermorgen ein Stückchen. Bis die beiden Ältesten wieder abreisen würden. Sie haben eigene Leben. An diesem Wochenende wurde nichts mehr aus einem gemeinsamen Foto. Schnell bekam die scheinbar heile Familienwelt erste Risse und zerbrach schließlich an Michels Aggressionen und Wutausbrüchen. Den Rest der Tage verschlief er in komatösem Zustand: Er war unfreiwillig auf Entzug geraten und konnte sich bei Anna keinen Nachschub besorgen.
Michel ist drogensüchtig. Kiffen und schniefen. Cannabis und Crystal Meth. Das Gras braucht er täglich, das Meth konsumiert er ab und zu.

Seine Mutter, Anna, weiß davon. Hilflos muss sie zusehen, wie ihr Erstgeborener aus einem normalen Leben driftet. Für Anna bedeutet ‚normal’ einen geregelten Alltag zu haben: Schon am Morgen aufstehen und nicht irgendwann am Tag, eine Familie haben, arbeiten, das Haus in Ordnung halten, an Termine denken, Rechnungen bezahlen, ein Hobby, Sport, Bücher.
Doch eine viel größere Sorge beherrscht Annas Denken: Angst um die Gesundheit, sogar um das Leben ihres Sohnes. Anna fürchtet nicht so sehr Cannabis, auch wenn sie dessen verheerenden Einfluss auf Michels Leben nicht mehr unterschätzt. Anna graut vor Crystal Meth, ein meist rein synthetisch hergestelltes Stimulat auf Amphetaminbasis. Ein starkes Nervengift, das sofort den Körper angreift. Die Wirkung ist fünfmal stärker als die von Speed: nach dem Konsum des kristallinen Stoffes verschwinden die natürlichen Gefühle für Hunger, Müdigkeit und Schmerz. Das Leben wechselt auf die linke Autobahnspur und rast mit überhöhter Geschwindigkeit von dannen. Der Absturz erfolgt aus großer Höhe mit bleierner Müdigkeit und heftigen Aggressionen. Langfristig drohen Hirnschädigungen, körperlicher Verfall, auch der Tod. [...]