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Kalle, der Bootsmann

KiPPE-Verkäufer blickt erneut zurück

Vor einem Jahr interviewte ich schon einmal KiPPE-Verkäufer Kalle über sein bewegtes Leben. Wir spazierten an Leipziger Fließgewässern entlang, die damals Hochwasser führten. Wir sprachen über den Verlust seiner Familie in jungen Jahren, die psychischen Probleme, die ihn seither begleiten, seine Obdachlosigkeit nach der Wende, aber auch über Positives wie seine Begeisterung für Sport und Schach. Letztlich vertagten wir unser Gespräch und verabreden uns erneut zu einem Bootsausflug.

„Wann ich das letzte Mal Boot gefahren bin? Das ist schon gar nicht mehr wahr!“, erzählt Kalle als wir beim Schleußiger Bootsverleih Herold in einen der Kähne steigen. Nach einigem Überlegen fällt es ihm ein: „Das muss in Aschersleben im Gondelteich gewesen sein“. In der ältesten Stadt Sachsen-Anhalts verbrachte Kalle seine Kindheit und Jugend. Er staunt, wie ruhig es hier bereits kurz nach unserem Aufbruch auf der Weißen Elster ist, obwohl wir mitten in der Stadt sind.

Unter der Fußgängerbrücke, über die die Limburger Straße führt, sehen wir Nutrias. Unser Fotograf weiß, dass die Nagetiere ursprünglich zur Pelzproduktion von Südamerika nach Europa gebracht wurden. Die Nutria-Pelze waren dann doch nicht so begehrt, wie erhofft. Dafür vermehren sich die Biberratten umso schneller, weil sie keine natürlichen Feinde haben. In Schleußig mögen dazu auch die Anwohner in der Nachbarschaft beitragen, von denen sie regelmäßig mit Obst und Gemüse gefüttert werden. Ein paar Meter weiter staunen wir über mehrere Bienenkästen, die am Ufer stehen – wir hatten nicht erwartet, dass hier Honig gewonnen wird.

Nach unserem Gespräch im letzten Jahr sind ein paar Lücken geblieben in Kalles Lebenslauf, die nun geschlossen werden sollen. So zum Beispiel seine Schulzeit. Kalle wurde 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, in Aschersleben eingeschult. Während des Krieges habe die Schule größtenteils stattgefunden, danach kamen die Flüchtlinge, und das Gebäude wurde zum Lazarett umfunktioniert, weshalb der Unterricht ausfiel. In den Straßen von Aschersleben gab es zu der Zeit, vermutlich auch weil keine Schule stattfand, Kämpfe unter den Kindern und Jugendlichen. Das fing häufig als Spaß, vielleicht als Räuber-und-Gendarm- Spiel an, steigerte sich aber teilweise zu heftigen Straßenschlachten zwischen den jugendlichen Rowdys, erinnert sich Kalle und erzählt: „Da ging es zur Sache, die Kinder waren noch auf Krieg getrimmt“. Allzu gern sei Kalle nicht zur Schule gegangen, am liebsten waren ihm die Fächer Rechnen und Geschichte.

Wir erreichen die Karlbrücke. Modern sanierte Neubauten wechseln sich mit liebevoll gestalteten Wohnungen in ehemaligen Fabrikanlagen ab, die bald zu hochpreisigen Lofts umgestalten werden sollen. Wir biegen von der Weißen Elster in den sehr viel schmaleren Karl-Heine-Kanal ein. Das Manövrieren stellt sich hier auch wegen des regen Gegenverkehrs von Paddel- und Motorbooten sowie der für Leipziger Gewässer recht stattlichen MS Weltfrieden als äußerst knifflig dar.

Von der 3. bis 5. Klasse begleiteten Kalle und seine Mutter, die als Verkäuferin nach dem Krieg lange keine Arbeit fand, seine Großeltern, die Schausteller waren. Sie besaßen ein großes Bodenkarussell mit Elefanten-, Esel- und Pferdefiguren. Ein Kindertraum, vor allem auch, weil Kalle mit allen anderen Fahrgeschäften im Schaustellerverbund fahren konnte. Allerdings musste er in Stoßzeiten oft mit anpacken und die Mitfahrenden abkassieren, woran er keine schönen Erinnerungen hat: „Durch das sich ständig drehende Karussell ist mit häufig schlecht geworden und manchmal musste ich mich auch übergeben.“ Außerdem sei das ständige Reisen auch mit Schulwechseln verbunden gewesen, was seiner schulischen Laufbahn nicht gut getan hätte. Schließlich schloss er die Schule nach der 8. Klasse ab und begann eine Ausbildung als Maschinenarbeiter bei den VEB Werkzeugmaschinenfabrik Aschersleben. [...]