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Leben ohne Wurzeln

Aufgeschrieben nach Notizen von Lukas S.

Geboren bin ich 1963 in Leipzig, dann aufgewachsen in verschiedenen Heimen. Schon frühzeitig sah sich das Jugendamt gezwungen, mich den Eltern zu entziehen. Ich muss das leider so sagen, aber die Eltern hatten sich so gut wie gar nicht um mich gekümmert. Im wahrsten Sinne des Wortes ließen sie mich im Dreck liegen. Als sie sich dann auch noch scheiden ließen, war der Kontakt vollends dahin. Das alles erfuhr ich jedoch erst viel später als Erwachsener.
Leicht fällt es mir bis heute nicht, darüber zu berichten. Wie es weiterging? Nun, zunächst brachte man mich in einem Kinderheim in Möckern unter. Dann wechselte ich nach Großpösna ins Kinderheim „Max Förster“. Es war ein gemischtes Heim, also eins für Mädchen und Jungen. Dann wurde es ein Heim nur noch für Jungen. Von den wenigen angenehmen Momenten in dieser Zeit fällt mir der Gang zum Bäcker ein, wenn ich beauftragt wurde, für die anderen Kinder etwas Gebackenes mitzubringen. Die Verkäuferin war immer sehr nett und steckte mir etwas zum Naschen zu.

Mit dem Gesicht zur Wand
Die Tage im Heim waren ausgefüllt mit unterschiedlichen Beschäftigungen. Entweder malten und bastelten wir oder wir lernten Schreiben mit Farbe. Oder wir legten Buchstaben mit Bastelhölzern. Doch besonders freuten wir uns, wenn wieder mal ein Ausflug angesagt war – wir also „Wandertag“ hatten. Wir besuchten den Botanischen Garten in Großpösna, das Freibad oder erkundeten die nähere Umgebung. Manchmal ging‘s mit der Straßenbahn auch nach Leipzig in den Zoo. Das war schon toll, so viele exotische Tiere zu sehen. Ich war gern in der großen Stadt, sie brachte Ablenkung vom Heimleben da draußen. Selbst die regelmäßigen Arztbesuche zählte ich dazu, weil sie uns ebenso nach Leipzig brachten und es dann immer was zu sehen gab.
In der Adventszeit haben wir viel gebastelt und die Räume hergerichtet. Für jedes Kind gab es Heiligabend Geschenke. Aber vor dem Weihnachtsmann hatte ich immer Angst – wie der da laut hineinstapfte mit dieser grässlichen Maske, die Türen schlug und mit der Rute fuchtelte. Dass das alles nur Verkleidung war, war mir ja noch nicht bewusst als Steppke. Selbst an den Osterhasen glaubte ich noch, obwohl ich ihn nie richtig zu sehen bekam.
Ach, wir glaubten an so vieles, was uns vorgegeben wurde. Im Heim mussten wir übrigens die Erzieherinnen immer mit „Tante“ anreden. Wenn wir es vergaßen, folgte die Strafe, d. h. wir mussten uns in die Ecke mit dem Gesicht zur Wand stellen und mehrmals die richtige Anrede aufsagen, so lange, bis wir es verinnerlicht hatten.
Auch das wurde uns eingetrichtert: Wenn wir etwas wollten, mussten wir zum Beispiel „Kann ich den Tantenlöffel bekommen?“ sagen.

Ab 1969/70 war das Landschulheim „Albert Kuntz“ für die nächsten Jahre mein neues Zuhause für mich und meine bisherigen Mitbewohner. Das Heim lag im kleinen Gaudichsroda unweit von Grimma und gehörte früher mal zu einem Rittergut. Als wir unsere neuen Erzieher und Lehrer kennenlernten, wehte gleich ein anderer Wind. So redete man uns das mit den „Tantenlöffeln“ wieder aus. So ein Unsinn, sagte man uns, es heißt nur Löffel. Nun wurden wir auch in Gruppen aufgeteilt. Ausgerechnet jeden Samstag mussten wir zum Gruppenappell antreten. Was da im Einzelnen geschah, weiß ich heute nicht mehr. Zum Unterricht in die Schule mit ihrem Sportplatz war‘s nur ein kurzer Fußweg. Die Schule selbst war ein einfacher, niedriger Bau, so dass wir Stifte schon mal durchs Fenster hinein und dann aufs Dach hinauf- und wieder hinuntergeklettert sind. Das Rumstromern nach dem Unterricht machte uns Spaß. Wenn wir allerdings bei unseren Klettertouren erwischt worden sind, gab‘s gleich schlechte Noten im Betragen. Oder man musste während des Unterrichts draußen im Gang vor der Tür stillstehen. [...]