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Wendebiografien

Ein Sprung ins kalte Wasser - Historiker Dr. Jörn-Michael Goll zu Wende und Einheit

Der geschichtsträchtige Umbruch in den Jahren 1989/90 bewegte die ganze Welt und alle Deutschen. Für die meisten Ostdeutschen war er lebensverändernd. Angefangen von den ambivalenten Emotionen, die das Ende des alten Systems auslösten bis hin zu den ganz faktischen Einschnitten, die aus der Einheit hervorgingen wie die immens ansteigende Arbeitslosigkeit und der Geburtenknick. Dr. Jörn-Michael Goll forscht an der Universität Leipzig u.a. zur Alltagsgeschichte im geteilten Deutschland. Die KiPPE sprach mit ihm über die Bedeutung von Wende und Wiedervereinigung für die Ost-, aber auch die Westdeutschen.

KiPPE: In diesem Herbst jährt sich die deutsche Wiedervereinigung zum 25. Mal: Wie hat sich der Alltag für DDR-Bürgerinnen und -Bürger damals verändert?
Dr. Jörn-Michael Goll: Das war für sie eine totale Veränderung. In erster Linie natürlich das politische System: Demokratie, Wahl-, Meinungs- und Informationsfreiheit. Dadurch hat man mehr Selbstbestimmung, aber auch mehr Eigenverantwortung erhalten. Sozial und wirtschaftlich kann man das Stichwort Treuhandanstalt nennen und die Transformation zur Marktwirtschaft. Die Gesellschaft entwickelte sich von einer Mangel- zu einer Konsumgesellschaft. Was vorher nicht ausreichend vorhanden war, lag nun über Nacht in den Schaufenstern.
Was ich noch aufzählen würde, ist die Umweltsituation. Grade hier im Süden der ehemaligen DDR mit der Braunkohle und den Industriebetrieben ist dies ein zweischneidiges Schwert. Die Betriebe wurden zum Teil abgewickelt. Zumindest hat das aber auch dafür gesorgt, dass sich die Umweltsituation verbesserte.
Eine Hauptforderung der Demonstrationen war die Reisefreiheit. Die bestand nun, und das führte zu einer Individualisierung der Gesellschaft. Viele sind weggezogen. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit betraf zahlreiche Menschen. Dadurch entstanden gerade im Osten große Defizite in der sozialen Sicherheit: Die Arbeitslosigkeit ist heute immer noch doppelt so hoch wie in Westdeutschland.

Welche Wünsche und Erwartungen gab es in der Zeit des Umbruchs?
Das ist natürlich ganz unterschiedlich. Es gibt allerdings ein paar Eckdaten, wie das Ergebnis der ersten freien und demokratischen Wahlen. Die Mehrheit der Wähler hat auf eine schnelle Wiedervereinigung gesetzt, insofern war dieser Weg legitim. Ein Großteil der Bevölkerung hatte sich aber ein Bild vom Westen aufgebaut – sei es über Westpakete oder die Medien – das vielleicht auch einem Traumbild entsprach. Die Bürgerrechtler dagegen, die sich aktiv dafür eingesetzt hatten, dass sich die DDR-Gesellschaft verändert, waren in der Minderheit. Sie träumten noch von sozialistischen Idealen und hatten gar nicht unbedingt das System der Bundesrepublik im Kopf. Menschen, die in der DDR unterdrückt und ausgegrenzt waren, hatten nach dem Umbruch natürlich komplett neue Perspektiven. Die Freiheiten, die man hinzugewann, waren enorm. Älteren Menschen auf dem Land waren dagegen zum Teil andere Kriterien wichtiger, wie etwa die Versorgungslage vor Ort. Da offenbarten sich natürlich Problemstellungen ganz anders als bei jungen agilen Typen, die von den vielen Freiheiten profitieren und Risiken als Chancen betrachten.

Hat sich dagegen das Leben im Westen verändert?
Für die Menschen in den alten Bundesländern hat sich zunächst wenig fühlbar verändert. Es gab lediglich ein Ampelmännchen, das man nicht kannte, oder einen grünen Pfeil an einer Straßenkreuzung. Ein bisschen anders verhielt sich das in den Regionen, die direkt an der innerdeutschen Grenze lagen oder in Westberlin. Da hat man natürlich ganz deutlich eine Veränderung gespürt. Die Menschen dort haben das Umland ganz anders wahrgenommen, lebten nicht mehr auf einer Insel. Es wäre allerdings zu einfach, die Veränderungen der letzten 25 Jahre allein auf den Prozess der Wiedervereinigung zu schieben. Da kommen noch ganz andere Faktoren dazu: Globalisierung, Technologie, Kommunikation, Wirtschaft, politische Sphäre – das Internet, der EU-Binnenmarkt, neue Supermächte oder der Zerfall der Sowjetunion. [...]